12. Schritt: Fähigkeitenlandkarte
Die wesentlichen Grundzüge der deutschen Verwaltung gehen auf das Königreich Preußen zurück. Insbesondere der „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I., sowie Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein nahmen wesentlichen Einfluss auf ihre Form. Sie funktionierte unter Königen und in der Kaiserzeit ebenso wie in der Weimarer Republik, im Dritten Reich, der DDR, aber auch der Bundesrepublik vor und nach der „Wende“. Zwar änderten sich die politischen Ziele und die Inhalte des Verwaltungshandelns, die Strukturen und die Vorgehensweisen blieben jedoch im Kern gleich.
Und so verwundert es kaum, dass viele Aussagen zur öffentlichen Verwaltung aus Max Webers „Wirtschaft und Gesellschaft“ auch über hundert Jahre später noch ihre Gültigkeit besitzen, z. B.: „Die Amtsführung erfolgt nach generellen, mehr oder minder festen und mehr oder minder erschöpfend erlernbaren Regeln. Die Kenntnis dieser Regeln stellt daher eine besondere Kunstlehre dar (je nachdem: Rechtskunde, Verwaltungslehre, Kontorwissenschaft), in deren Besitz die Beamten sich befinden.“
„Wenn etwas über mehrere Jahrhunderte und in unterschiedlichen politischen System funktioniert hat, wieso sollte man daran überhaupt etwas ändern?“ Dieser Gedanke steht allen Reformbestrebungen der Verwaltung der letzten Jahrzehnte entgegen, und so existiert die Verwaltung weiter in ihrer bisherigen Form, trotz aller berechtigten oder unberechtigten Kritik.
Dennoch beeinflusst auch die Umgebung stark die Verwaltung. Nicht nur die Anzahl der Anforderungen an die Verwaltung steigt, sondern auch deren Komplexität und die benötigten Fachkenntnisse zu deren Bewältigung. Gleichzeitig sinkt durch den Fachkräftemangel nicht nur die Auswahl an möglichen internen Bewerbern, sondern auch an externer Expertise. Und die Digitalisierung führt die von Weber benannte Aktenmäßigkeit an ihre Grenzen, weil plötzlich Dokumente in Informationen und diese wiederum in Daten zerlegt werden müssen.
Die sich ändernde Umwelt treibt langsam, aber stetig eine Evolution der Behördenstrukturen voran, die sich am deutlichsten im Umgang mit dem Thema Prozessmanagement zeigt.
Ursprüngliche Behörden verfügen gerade einmal über ein Organigramm und zumeist über einen Geschäftsverteilungsplan, in dem allgemein Aufgaben beschrieben sind. Die Genauigkeit und die Flughöhe der Aufgabenbeschreibungen variiert von Aufgabe zu Aufgabe, wie wir bereits im 4. Schritt dieser Artikelreihe gesehen haben. In der Konsequenz agieren Führungskräfte zumeist als erste Sachbearbeiter und müssen jederzeit zu jedem Thema sprechfähig sein. Die Hierarchie ist daher stark ausgeprägt, die Dokumentation ist spärlich und Daten werden nicht systematisch gesammelt. Das Konstrukt funktioniert gut, solange die Anforderungsbreite ein gewisses Maß nicht übersteigt und der Aufgabenbereich der Behörde nicht zu stark im Fokus des öffentlichen Interesses steht.
Die erste Stufe der Weiterentwicklung stellt eine Prozesslandkarte dar. Diese enthält noch stark an der Aufbauorganisation orientierte Gruppierungen von Aufgabenbereichen. Die Hauptgliederung in Führungs- bzw. Steuerungs-, Kern- bzw. Leistungserbringungs- sowie Unterstützungsprozesse bewirkt jedoch in einer Hinsicht ein Umdenken: Führungskräfte nehmen wahr, dass ihre Hauptaufgabe nicht darin besteht, an jedem Detail der Leistungserbringung mitzuwirken, sondern darin, die Qualität der Prozesse messbar zu machen und zu steuern. In diesem Zusammenhang tauchen erste Kennzahlen auf. Zudem wird die Aufbauorganisation nicht mehr als reines Kästchenschieben begriffen, sondern die Optimierung der Ablauforganisation zeigt erste Einflüsse auf die Aufbauorganisation. Auch die Digitalisierung macht Fortschritte.
Der demographische Wandel, Fachkräftemangel, die Digitalisierung und eine gestiegene Erwartungshaltung der Bevölkerung sorgen für einen beständigen Druck von außen, die Leistungsfähigkeit der eigenen Organisation zu verbessern. Dies kann von einzelnen Personen nicht mehr geleistet werden, weshalb eine stärkere Strukturierung und Dokumentation, aber auch die Verteilung der Aufgaben auf mehrere Schultern als einziger Lösungsweg besteht.
Ein zunehmender Umfang an Prozessdokumentation ermöglicht auch die Optimierung der Prozesse und eine stärkeren Anpassung der Aufbauorganisation an die Abläufe der Leistungserstellung. Bisher wahrgenommene Aufgaben und Tätigkeiten werden dabei hinterfragt, und es folgt eine Konsolidierung von Werkzeugen. Die Wahrnehmung von Steuerungsprozessen führt zu einer Professionalisierung in diesem Bereich, wodurch weitere Management-Disziplinen wie Anforderungsmanagement, Qualitätsmanagement, Risikomanagement oder Architekturmanagement begonnen werden. Wenn die Führungskräfte diese Entwicklung mittragen, entsteht dabei ein Kulturwandel, der sich positiv auf die Beschäftigtenzufriedenheit, das Organisationsklima und die Wahrnehmung der Organisation in der Öffentlichkeit auswirkt.
Der letzte Evolutionsschritt besteht in der Ergänzung der Prozesslandkarte durch eine Fähigkeitenlandkarte. Während die Prozesslandkarte die Organisation aus Sicht ihrer inneren Struktur beschreibt, nimmt die Fähigkeitenlandkarte den Blickwinkel des Auftrags für die Behörde ein. Es wird also das Gesetz als Grundlage genommen für die Frage: „Welche Fähigkeiten muss die Behörde besitzen, um die ihr übertragenen gesetzlichen Aufgaben zu erfüllen?“ Wenn Sie die Beantwortung der Frage für einfach halten, dann versuchen Sie es gerne für ihre eigenen Behörde.
Praxisbeispiel
Versuchen wir uns nach dieser langen Vorrede einmal an der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung. Die BAM hat die verschiedenen Rechtsgrundlagen veröffentlicht. Damit es richtig knallt, picken wir uns das Gesetz über explosionsgefährliche Stoffe, kurz SprengG heraus. Der § 45 SprengG beschreibt die Aufgaben der BAM in diesem Kontext:
Die Bundesanstalt ist zuständig für
- die Weiterentwicklung von Sicherheit in Technik und Chemie, einschließlich der Durchführung von Forschung und Entwicklung in den Arbeitsgebieten,
- die Durchführung und Auswertung physikalischer und chemischer Prüfungen von Stoffen und Anlagen einschließlich der Bereitstellung von Referenzverfahren und -materialien,
- die Förderung des Wissens- und Technologietransfers in den Arbeitsgebieten,
- die Durchführung der ihr durch dieses Gesetz zugewiesenen Aufgaben.
Punkt 4 bringt keinen direkten Erkenntnisgewinn, man muss dazu das Gesetz Paragraph für Paragraph durchlesen, und wird dann z. B. im § 33b, aber auch an vielen anderen Stellen fündig. Die erste Erkenntnis: Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Belassen wir es daher für diesen Artikel bei den ersten drei Punkten. Daraus ergeben sich bereits viele Aufgaben:
- Weiterentwicklung von Sicherheit in Technik
- Durchführung von Forschung in Technik zur Weiterentwicklung der Sicherheit
- Durchführung von Entwicklung in Technik zur Weiterentwicklung der Sicherheit
- Weiterentwicklung von Sicherheit in Chemie
- Durchführung von Forschung in Chemie zur Weiterentwicklung der Sicherheit
- Durchführung von Entwicklung in Chemie zur Weiterentwicklung der Sicherheit
- Durchführung physikalischer Prüfungen von Stoffen
- Durchführung physikalischer Prüfungen von Anlagen
- Durchführung chemischen Prüfungen von Stoffen
- Durchführung chemischen Prüfungen von Anlagen
- Bereitstellung von Referenzmaterialien
- Bereitstellung von Referenzverfahren
- Förderung des Wissenstransfers
- Förderung des Technologietransfers
Durch das Aufschlüsseln der Aufgaben ergeben allein diese drei Punkte eine lange Liste. Aber damit nicht genug, hier sind erst einmal nur die Aufgaben benannt, noch keine Fähigkeiten.
Picken wir uns also die Aufgabe „Forschung in Chemie“ heraus, und überlegen wir, welche Fähigkeiten zu deren Erfüllung notwendig sind:
- Beschaffung von Material für die Experimente
- Lagerung von teils gefährlichem Material
- Planung von Experimenten
- Projektdurchführung
- Beobachtung von chemischen Vorgängen
- Analyse von chemischen Produkten
- Messen physikalischer Auswirkungen, z. B. Hitzeentwicklung
- Aufzeichnung von Abläufen
- Dokumentation von Ergebnissen
- Kommunikation mit anderen Forschungseinrichtungen
Die Liste ist ziemlich sicher nicht vollständig, stellt aber schon einmal eine valide Basis für die chemische Forschung dar.
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Verfährt man jetzt mit den anderen Punkten ähnlich, wird schnell deutlich, dass Fähigkeiten wie „Beschaffung von Material“, „Durchführung von Experimenten“ oder „Messen physikalischer Auswirkungen“ auch für andere Aufgaben benötigt werden. Man kann Fähigkeiten also zu Fähigkeitsgruppen aggregieren. Das funktioniert ähnlich wie bei der Prozesslandkarte, und auf der höchsten Aggregationsebene werden die Fähigkeiten der obersten Ebene der Prozesslandkarte relativ ähnlich sein.
„Stopp!“, höre ich jetzt einige sagen. „Wenn wir mit der Fähigkeitenlandkarte sowieso auf dasselbe rauslaufen wie mit der Prozesslandkarte, was sollen wir dann damit?“
Die Antwort besteht aus mehreren Teilen. Organisationen sind immer historisch gewachsen. Sie haben sich an veränderte Herausforderungen mehr oder weniger angepasst, wurden immer wieder umstrukturiert oder neu zusammengesetzt. Wenn man eine Behördenleitung fragt, ob die Behörde ihrem Auftrag gerecht wird, wird man immer die zutiefst menschliche Antwort erhalten: „Natürlich, wir sind optimal aufgestellt, aber wir haben zu wenig Personal.“
Die Fähigkeitenlandkarte ermöglicht es jedoch, die Frage nicht nur nach Gefühl zu beantworten, sondern genauer hinzuschauen. Einerseits kann man so erkennen, ob es benötigte Fähigkeiten gibt, die gar nicht in der Organisation verankert sind. Andererseits kann man Organisationsbereiche identifizierten, die für die benötigten Fähigkeiten überhaupt keine Funktion haben.
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Die bereits bekannte Realisierungsverbindung erlaubt es, Rollen, Akteure, Geschäftsprozesse, Leistungen und Funktionen (gelb), aber auch Applikationen (blau), Material oder Einrichtungen (grün) an die Fähigkeit zu binden. So lässt sich präzise visualisieren, was alles erforderlich ist, um aus der Fähigkeit (ability) eine Fertigkeit (capability) werden zu lassen. Umgekehrt lässt sich aber auch schnell erkennen, welche Fähigkeiten beeinträchtigt werden, wenn eine der Realisierungsnotwendigkeiten gestört ist.
Im Endausbau bedeutet das, dass für jedes vorhandene Objekt im Besitz der Organisation ein digitaler Zwilling existiert, der dann für die Modellierung und Auswertung herangezogen werden kann. Diese digitalen Zwillinge müssen jedoch nicht allesamt manuell modelliert werden. Stattdessen werden sie aus vorhandenen Datenspeichern in das Architekturmanagement kopiert und nur dann grafisch modelliert, wenn es erforderlich ist, das sichtbar zu machen.
Zudem wird nicht jedes einzelne Objekt direkt an die Fähigkeit gebunden. Stattdessen werden die aus dem 4. Schritt bekannten Funktionen verwendet, um vorhandene Objekte zusammenzufassen. An eine Funktion können Prozesse, Rollen usw. gebunden werden. Dann wird die Funktion an die Fähigkeit gebunden.
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Ein weiterer Vorteil ist, dass man auf diese Weise gut einen Soll-Ist-Abgleich durchführen kann. Die Funktionen stellen das Ist dar, die Fähigkeiten das, was die Organisation können sollte, also das Soll.
Fazit
Die Fähigkeitenlandkarte ist ein moderner, zielführender Ansatz, um eine Organisation den sich wandelnden Anforderungen an sie jederzeit objektiv gerecht werden zu lassen. Er setzt jedoch einen hohen organisatorischen Reifegrad voraus, insbesondere muss die relativ junge Kulturkompetenz Datenfähigkeit in der Organisation vorhanden sein. Ist dieses Vorgehen einmal etabliert, ermöglicht es, jederzeit Anpassungsnotwendigkeiten zu erkennen und mittels Steuerung darauf zu reagieren.
Damit endet die Reihe „Erste Schritte in ArchiMate“ vorerst. Ich hoffe, es hat Ihnen Freude gemacht, sich auf diese kleine Reise zu begeben, und Sie haben genug Freude am Thema entwickelt, und jetzt Ihre eigenen Schritte zu gehen.
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Stand 23.01.2025