Geschichte der Aussiedler- und Spätaussiedleraufnahme

Dr. Jürgen Hensen, Präsident des Bundesverwaltungsamtes von 1995 bis 2010

Das Bundesverwaltungsamt kann auf eine lange Tradition bei der Aufnahme von Vertriebenen und Aussiedlern aus den Staaten des ehemaligen so genannten “Ostblocks“ zurückblicken. Heute umfasst diese Aufgabe nicht nur die eigentliche Bearbeitung der Anträge auf Aufnahme nach dem Bundesvertriebenengesetz (BVFG), die Durchführung von “Sprachtests“ in den Aussiedlungsgebieten, die erste Aufnahme in Deutschland und die Verteilung auf die Bundesländer, sondern auch die Durchführung des Bescheinigungsverfahrens

Einleitung

Wenn wir heute über die Geschichte der Aussiedler- und Spätaussiedleraufnahme sprechen, dann geht es um einen Zeitraum von rund sechzig Jahren. Die erste statistische Erfassung deutscher Volkszugehöriger, die ihre Heimat im damaligen Ostblock nach Abschluss der Vertreibungsmaßnahmen verlassen haben, stammt aus dem Jahr 1950. Um die Entwicklung in diesem großen Zeitrahmen zu erschließen, wird er im Folgenden in sechs Zeitabschnitte gegliedert, die sich an der politisch-historischen Situation, an wichtigen politischen Ereignissen oder an bedeutsamen gesetzlichen oder verfahrensmäßigen Veränderungen orientieren. In diesem Sinne unterscheiden wir die Zeit von 1950 bis 1986, die durch den Eisernen Vorhang gekennzeichnet war, die Ära des Umbruchs von 1987 bis 1990, in der die Grenzen geöffnet wurden, die Zeit von 1990 bis 1992 mit der Einführung des vertriebenenrechtlichen Aussiedleraufnahmeverfahrens, den Abschnitt von 1993 bis 1995, der durch das Inkrafttreten des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes geprägt ist, sowie die Phasen von 1996 bis 2004 und von 2005 bis heute, in denen die Aussiedlerintegration und die sprachlichen Anforderungen immer mehr in den Vordergrund getreten sind.

1950 bis 1986 - Aufnahme im Zeitalter des Eisernen Vorhangs

Den ersten und zugleich längsten Abschnitt bildet die Epoche der Ost-West-Konfrontation. In diese Zeit fallen eine Reihe wichtiger politischer Ereignisse, die mittelbar oder auch ganz unmittelbar Auswirkungen auf den Aussiedlungsprozess hatten. Dazu gehören insbesondere der Besuch Konrad Adenauers in Moskau 1955 und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der ehemaligen Sowjetunion, die innenpolitische Entwicklung in Polen vom Posener Aufstand 1956 bis zur Entstehung und dem Wirken der Gewerkschaft Solidarnos´c´, das deutsch-sowjetische Repatriierungsabkommen von 1958, der Prager Frühling 1968, die Neue Ostpolitik mit den Verträgen von Moskau und Warschau im Jahr 1970 sowie dem deutschtschechischen Vertrag von 1973, der Beginn des KSZE-Prozesses 1973 mit der Schlussakte von 1975 und, in unmittelbarem Zusammenhang mit der Helsinki-Konferenz, das deutsch-polnische Ausreiseprotokoll vom 9. Oktober 1975 und schließlich in den Jahren 1985 und danach das Auftreten Michail Gorbatschows mit seiner Reformpolitik, die durch die Begriffe ‚Glasnost‘ und ‚Perestrojka‘ gekennzeichnet ist.1 Insgesamt sind in dieser Zeit 1,34 Millionen Personen ausgesiedelt; das sind 30 Prozent aller Menschen, die die Aussiedlungsgebiete bis heute verlassen haben.

Rechtliche Basisnorm für die Aufnahme in Deutschland und damit Ausdruck der Solidarität mit den von den Folgen des Zweiten Weltkriegs besonders betroffenen Menschen war und ist der Artikel 116 des Grundgesetzes. Danach werden Flüchtlinge oder Vertriebene allen anderen Deutschen gleichgestellt, wenn sie als deutsche Volkszugehörige oder als deren Ehegatten oder Abkömmlinge aufgenommen wurden. Diese Verfassungsvorschrift wurde durch das Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz - BVFG) vom 19. Mai 1953 konkretisiert. Es umschrieb den Begriff des „Aussiedlers“, stellte ihn mit den Vertriebenen und Flüchtlingen gleich und begründete einen Anspruch auf Aufnahme für die Personen, die nach Abschluss der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen als deutsche Staatsangehörige oder deutsche Volkszugehörige den Ostblock verlassen. Als deutsche Volkszugehörige gelten dabei Personen, die sich in der Heimat zum deutschen Volkstum bekannt haben und deren Bekenntnis durch Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung und Kultur bestätigt wird.

Die Möglichkeit auszusiedeln hing grundsätzlich vom „Goodwill“ der Herkunftsstaaten ab, der, wie im Fall Rumäniens, auch durch Geldleistungen gefördert wurde. Die Aussiedlung stand in dieser Zeit in engem Zusammenhang mit dem humanitären Anliegen der Familienzusammenführung. Mit "Familienzusammenführung“ war auch die Vorschrift des damaligen § 94 BVFG übertitelt, die den Kreis der berücksichtigungsfähigen Personen festlegte. Sie stellte eine ausländerrechtliche Spezialvorschrift im Vertriebenenrecht dar.

Entscheidenden Anteil am Zustandekommen einer organisierten Familienzusammenführung hatten die Organisationen des Roten Kreuzes, die sich zunächst um die Registrierung von suchenden und gesuchten Personen sowie die Sammlung von Unterlagen über Deutsche, die zum Beispiel aus Polen ausreisen wollten, kümmerten. Zu den herausragenden Ereignissen gehörten die in den Genfer Verhandlungen von 1949 vereinbarte, von den Engländern so genannte „Operation Link“, die 1951/1952 zur Ausreise von mehr als 80.000 Menschen aus Polen führte, die Vereinbarung zwischen dem Deutschen und dem Polnischen Roten Kreuz von 1954 über die Aussiedlung von weiteren 240.000 Deutschen und die Internationale Rot-Kreuz-Konferenz von 1965 in Wien, die zumindest einen zeitweiligen Anstieg der Aussiedlerzahlen aus der ehemaligen Sowjetunion zur Folge hatte.

Das Aussiedlungsverfahren verlief weitgehend ungeregelt. Die Menschen flüchteten oder nutzten ein Touristenvisum, um nach Deutschland zu kommen. Die vertriebenenrechtlichen Feststellungen erfolgten dann in der Bundesrepublik durch die örtlichen Behörden. Auch Personen, die keine Anerkennung als Aussiedler fanden, konnten als politische Flüchtlinge regelmäßig in Deutschland bleiben. Es gab aber auch bereits ein geregeltes Verfahren in Form des Übernahmeverfahrens. Man stellte einen Antrag beim zuständigen Ausgleichs- beziehungsweise Flüchtlingsamt oder bei einer deutschen Auslandsvertretung, der vom Bundesverwaltungsamt genehmigt wurde und sodann als Grundlage für einen entsprechenden Sichtvermerk zur Einreise diente. Das Übernahmeverfahren war ein ausländerrechtliches Verfahren, das als Vorläufer des späteren vertriebenenrechtlichen Verfahrens angesehen werden kann.

1987 bis 1990 – Öffnung der Grenzen

Die Situation änderte sich vollständig mit den weltpolitischen Veränderungen im damaligen Ostblock, die zur Durchlässigkeit der Grenzen führten und den Menschen zum ersten Mal die Möglichkeit boten, selbstbestimmt über das Verlassen dieser Staaten zu entscheiden. Sie nutzten diese Chance, und so kamen in diesem Zeitabschnitt mit 1,05 Millionen fast ebenso viele Aussiedler nach Deutschland wie in den mehr als dreieinhalb Jahrzehnten zuvor. Der Aussiedlungsschwerpunkt lag mit 570.000 Personen immer noch in Polen, mit mehr als 300.000 Personen aber bereits gefolgt von der ehemaligen Sowjetunion

Die für die Menschen in West und Ost so erfreuliche Entwicklung stellte Politik und Verwaltung in Deutschland auch vor neue Herausforderungen. Die große Zahl der Einreisenden musste politisch flankiert, vor allem aber auch aufnahmetechnisch in würdiger Weise bewältigt werden. Vor diesem Hintergrund wurde am 28. September 1988 mit Dr. Horst Waffenschmidt der erste Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen als zentraler politischer Ansprechpartner bestellt. Das Übernahme- sowie das Registrier- und Verteilungsverfahren wurden beim Bundesverwaltungsamt zentralisiert und nicht zuletzt ein Netz von Erstaufnahmeeinrichtungen sowie ständigen und sonstigen Ausweichunterkünften mit einer Aufnahmekapazität von bis zu 30.000 Personen pro Tag aufgebaut. Damit konnten Erstversorgung und Verteilung der Aussiedler auf die Länder sichergestellt werden. Eine Steuerung des Aussiedlungsprozesses war mit diesen Maßnahmen allerdings nicht möglich.

Große Verdienste bei der Betreuung der Ankommenden erwarben sich die Kirchen und die karitativen Organisationen sowie die Friedlandhilfe, die, vielfach getragen von ehrenamtlichem Engagement, die Menschen mit dem Notwendigsten versorgten.

1990 bis 1992 – Einführung des Aussiedleraufnahmeverfahrens

Angesichts der stark ansteigenden Zahl der Einreisen wurde die Notwendigkeit, die Aufnahme zu steuern, immer evidenter. Eine wichtige Voraussetzung dafür bildete das am 1. Juli 1990 in Kraft getretene Aussiedleraufnahmegesetz, mit dem das Aussiedleraufnahmeverfahren eingeführt wurde. Gemäß diesem Gesetz musste das Aufnahmeverfahren nunmehr vom Herkunftsland aus betrieben werden, das heißt, es schrieb zwingend vor, von dort aus einen Aufnahmeantrag zu stellen, der vom Bundesverwaltungsamt zu bescheiden war. Der in Abstimmung mit dem aufnehmenden Bundesland erteilte Aufnahmebescheid diente fortan als Grundlage für die Einreise nach Deutschland. Der Vertriebenenausweis wurde nach Aufnahme in Deutschland durch die Bundesländer erteilt. Die Ausreise aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion wurde durch Koordinierungsmaßnahmen und Übernahme der Flugkosten unterstützt. Das war eine wichtige humanitäre Hilfe. Gleichzeitig wurden die Einreisezeitpunkte planbar, sodass ein optimaler Transfer und eine optimale Versorgung in Deutschland möglich waren. Die Änderung des Verfahrens hatte erhebliche zahlenmäßige Auswirkungen. Denn die Ermittlungen zur Feststellung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Aufnahme waren mit großem Aufwand verbunden. Während 1990 noch rund 400.000 Personen einreisten, sank die Zahl der Einreisenden in den Folgejahren auf rund 220.000 bis 230.000 Menschen. Gleichzeitig erreichten die Antragszahlen Größenordnungen von mehr als 560.000

1993 bis 1995 – Ende der Nachkriegszeit – Kriegsfolgenbereinigungsgesetz

Mit dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz, das am 1. Januar 1993 in Kraft trat, begann ein neuer Zeitabschnitt: Das Ende der Nachkriegszeit wurde vom Gesetzgeber signalisiert. Das Gesetz regelte die „Spät-Aussiedlung“ und brachte eine Reihe bedeutsamer rechtlicher Änderungen. Mit dem „Spätaussiedler“ stellte der Gesetzgeber dem „Aussiedler“ einen neuen Typus gegenüber, wobei sich die Differenzierung ohne materiell-rechtliche Konsequenzen allein am Zeitpunkt der Aussiedlung orientiert. Spätaussiedler ist, wer das Herkunftsland im Wege des Aufnahmeverfahrens nach dem 31. Dezember 1992 verlässt. Neu geregelt wurde die deutsche Volkszugehörigkeit für alle nach dem 31. Dezember 1923 Geborenen. Voraussetzung ist danach die Abstammung von einer Person der Erlebnisgeneration, die familiäre Vermittlung von bestätigenden Merkmalen –- Sprache, Erziehung, Kultur –- sowie ein Bekenntnis, das in der Regel an die Nationalitätenerklärung geknüpft und insoweit objektiviert ist.

Weichenstellungen für die Zukunft erfolgten durch den Ausschluss des Statuserwerbs für nach dem 31. Dezember 1992 Geborene und einen Paradigmenwechsel beim sogenannten Kriegsfolgenschicksal. Wurde die kriegsfolgenbedingte Ausreise bis 1992 allgemein gesetzlich vermutet, musste sie im Hinblick auf die politischen Veränderungen nunmehr grundsätzlich positiv nachgewiesen werden. Eine Ausnahme, wenn auch eine sehr gewichtige, wurde für die Republiken der ehemaligen Sowjetunion und die baltischen Staaten gemacht, für deren Angehörige auch weiterhin die Annahme fortwirkender Benachteiligungen galt. Die Aufnahme von Personen aus anderen Staaten war dagegen entscheidend erschwert. Wer deshalb auf die deutsche Staatsangehörigkeit verweisen konnte, nutzte die Möglichkeit, einen Staatsangehörigkeitsausweis zu beantragen. Das Bundesverwaltungsamt hat seit 1993 350.000 Ausweise für Antragsteller aus Polen ausgestellt. Das Siebte Gesetz zur Änderung des BVFG vom 16. Mai 2007 schloss wegen des EU-Beitritts die Vermutung des Kriegsfolgenschicksals dann auch für die Bürger der baltischen Staaten aus.

Mit der „Einbeziehung“ kreierte der Gesetzgeber ein neues Rechtsinstitut zur Aufnahme von nichtdeutschen Familienangehörigen des Spätaussiedlers. Damit konnten nicht nur Ehegatten und minderjährige Kinder, sondern alle Abkömmlinge in den Aufnahmebescheid des Spätaussiedlers einbezogen werden. Zusätzlich erhielten Familienangehörige der Einbezogenen mit ausländerrechtlichem Anspruch auf Einreise die Möglichkeit, aufgrund einer ausländerrechtlichen Vorabzustimmung der Bundesländer mit nach Deutschland einzureisen und in das Verteilungsverfahren aufgenommen zu werden. Die bisherige Regelung über die Familienzusammenführung (§ 94 BVFG), die die Berücksichtigung volljähriger Kinder nur in ganz bestimmten Fällen zuließ, entfiel. Zur Voraussetzung der Einbeziehung wurde jedoch gemacht, dass diese, von Härtefällen abgesehen, vor der Ausreise des Spätaussiedlers erfolgt. Diese Regelung hatte Folgen in mehrfacher Hinsicht. Sie bedeutete gegenüber dem Status quo ante zunächst eine familienfreundliche Ausweitung der Aufnahme. Gleichzeitig führte sie jedoch zu Familientrennungen, wenn das Einbeziehungsverfahren nicht rechtzeitig durchgeführt wurde. Verzichtet zum Beispiel jemand auf die Einbeziehung, weil er mit einem nichtdeutschen Ehegatten verheiratet ist, so kann er das Verfahren nicht mehr nachholen, wenn sich die Lebenssituation durch Tod des Partners oder Scheidung der Ehe verändert. Eine weitere Konsequenz der Ausweitung war, dass der Anteil der nicht Deutsch Sprechenden ständig anstieg.

Um die Steuerung des Aussiedlungsprozesses zu gewährleisten, wurde die Zahl der Aufzunehmenden auf 226.000 Personen pro Jahr mit einer Abweichung von zehn Prozent nach oben oder unten erstmals gesetzlich begrenzt. Das Bundesverwaltungsamt erhielt damit eine komplexe weitere Aufgabe, nämlich den Zugang aktiv zu steuern. Das bedeutete, das Ausreiseverhalten zu prognostizieren und die Zahl der zu erteilenden Aufnahmebescheide entsprechend auszutarieren. Zugangsprognosen waren jedoch mit vielen Unsicherheiten verbunden. Viele Menschen siedelten trotz Aufnahmebescheids nicht aus, sondern warteten die weitere Entwicklung in ihren Herkunftsländern ab und nutzten die Bescheide als „Sicherheitspapiere“. Das Bundesverwaltungsamt hat deshalb das Ausreiseverhalten der Spätaussiedler empirisch analysiert, um Zeitpunkte und Häufigkeit möglichst realistisch antizipieren zu können. Das war eine entscheidende Voraussetzung für eine gesetzeskonforme Verwaltungspraxis. Insgesamt wurden in diesem Zeitabschnitt 660.000 Personen registriert, wobei die Angehörigen der ehemaligen Sowjetunion jetzt zahlenmäßig dominierten. Die Jahreszahlen bewegten sich in dem gesetzlich fixierten Rahmen

1996 bis 2004 – Integration im Blickpunkt

In den Folgejahren rückte das Thema „Integration“ immer mehr in den Vordergrund. Die Gründe dafür waren vielfältig; dazu gehörten die Bildung von Ansiedlungsschwerpunkten im Westen Deutschlands und zunehmende Sprachprobleme. Nach Ankunft und Registrierung in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Bundesverwaltungsamtes wurden die Spätaussiedler schlüsselgemäß auf die Bundesländer und von dort aus auf die Wohnorte verteilt. Faktisch zogen sie jedoch in den Ort ihrer Wahl, wobei insbesondere die neuen Länder, auf die eine Quote von 20 Prozent entfiel, wenig Akzeptanz fanden. So bildeten sich Gebiete mit hoher Aussiedlerdichte und immer deutlicher wahrgenommenen Integrationsproblemen. Der Gesetzgeber reagierte mit der Neufassung des Gesetzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler vom 26. Februar 1996 und sanktionierte abweichende Wohnsitznahmeentscheidungen mit dem Ausschluss sozialer Leistungen. Gleichzeitig wurde die Integrationsförderung neben Sprachkursen, Eingliederungshilfen der Arbeitsverwaltung usw. durch Modellprojekte, die auf die Weiterentwicklung der Integrationsarbeit und Netzwerkbildung gerichtet waren, sowie durch gemeinwesenorientierte Projekte im Wohnumfeld der Spätaussiedler verstärkt. Insgesamt förderte das Bundesverwaltungsamt im Auftrag des Bundesinnenministeriums im Jahr 2000 1.200 Projekte mit einem Haushaltsvolumen von 44 Millionen DM.

Die Sprache ist ein wesentlicher Faktor der Ich- und der Wir-Identität und zugleich als wichtigste Kommunikationsform sowie als Kulturmittler oder Kulturträger eine unverzichtbare Integrationsvoraussetzung. Für den Spätaussiedler sind – familiär vermittelte –- Kenntnisse der deutschen Sprache statusimmanent. Ob diese gesetzlich verankerte Voraussetzung vorliegt, wurde bislang regelmäßig nach Schlüssigkeit des Vortrags entschieden. Ab Mitte des Jahres 1996 begann das Bundesverwaltungsamt damit, die Sprachkenntnisse im Verwaltungsverfahren im Rahmen einer nicht wiederholbaren Anhörung konkret festzustellen, wofür sich der Begriff „Sprachtest“ einbürgerte. Maßstab ist dabei die Fähigkeit zum Gedankenaustausch über einfache Lebenssachverhalte des Alltags, gegebenenfalls auch in Dialektform. Die Einführung dieser Maßnahme war mit dem Aufbau eines Sprachtestregimes verbunden. Dazu musste die Abstimmung mit den Herkunftsländern, die Sicherung der notwendigen Infrastruktur (insbesondere Sprachtestbüros an vielen Standorten möglichst in Nähe der Siedlungsgebiete) sowie die Entsendung von Sprachtestern des Bundesverwaltungsamtes erfolgen. Die Sprachtester wurden ab dem 1. Juni 1996 sukzessiv eingesetzt, sodass ab März 1997 jedem Aufnahmebescheid ein positiver Sprachtest zugrunde lag. Flankierend wurden zusätzliche Sprachkurse in den Herkunftsgebieten organisiert und finanziert. Bis 2007 konnten 48.000 solcher Kurse mit 750.000 Teilnehmern stattfinden.

Insgesamt hat das Bundesverwaltungsamt bis heute mehr als 320.000 Sprachtests durchgeführt. 52 Prozent der Teilnehmer haben den Test bestanden, 48 Prozent konnten den Besitz der erforderlichen Sprachkenntnisse nicht nachweisen. Eine weitere, große Zahl nahm an einer Anhörung nicht teil, sondern nutzte von vornherein die Möglichkeit, in den Aufnahmebescheid eines anerkannten Spätaussiedlers miteinbezogen zu werden. Das alles führte zu einer Veränderung der rechtlichen Struktur, das heißt des Verhältnisses von Spätaussiedlern und Familienangehörigen. Betrug der Anteil der Spätaussiedler im Jahr 1993 noch etwa 75 Prozent, sank er im Jahr 2004 auf unter 25 Prozent, während die Anteile der Einbezogenen und der sonstigen Angehörigenentsprechend anstiegen

2005 bis 2007 – Sprache als Integrationsvoraussetzung

Den Sprachkenntnissen wurde in der Folge eine immer größere Bedeutung beigemessen, zunächst durch das Zuwanderungsgesetz und anschließend durch die Novellierung des Aufenthaltsrechts.

Waren Sprachkenntnisse bisher nur für den Spätaussiedler erforderlich, so machte sie der Gesetzgeber mit dem Zuwanderungsgesetz, das am 1. Januar 2005 in Kraft trat, auch zur Voraussetzung für die Einbeziehung in den Aufnahmebescheid eines Spätaussiedlers. Der Personenkreis, der über Sprachkenntnisse verfügen musste, erweiterte sich damit, wie die Reaktionen auf die Einführung von Sprachtests zeigen, erheblich. Als Maßstab wurde die „Kompetenzstufe A 1“ des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen genommen, das heißt, ein Familienangehöriger soll „in Wort und Schrift vertraute, alltägliche Ausdrücke und ganz einfache Sätze verstehen und verwenden [können], die auf die Befriedigung konkreter Bedürfnisse zielen, er kann sich vorstellen und mit Hilfe des Gesprächspartners verständigen“. Dabei gibt es Erleichterungen für junge und ältere Menschen. Zur Überprüfung der Sprachkenntnisse führte das Bundesverwaltungsamt wiederholbare „Sprachstandstests“ ein, die an einer deutschen Auslandsvertretung abgelegt werden können. Der Nachweis kann auch durch Vorlage eines entsprechenden Sprachzertifikats des Goethe-Instituts erbracht werden. Bislang sind rund 6.700 Sprachstandstests mit einer Erfolgsquote von 23 Prozent durchgeführt worden.

Die Konsequenzen dieser Regelung waren und sind erheblich. Nicht Deutsch Sprechende müssen sich dem aufenthaltsrechtlichen Verfahren stellen. Das bedeutet, dass volljährige Abkömmlinge wegen der hohen Hürden im Aufenthaltsrecht praktisch ausgeschlossen sind. Aber auch nicht einbezogene Ehegatten und minderjährige Kinder konnten nicht mehr mit dem Spätaussiedler ausreisen, sondern wurden nach der Beschlusslage in der Innenministerkonferenz auf die aufenthaltsrechtliche Nachreise verwiesen.

Das neue Aufenthaltsrecht von 2007 verschärfte die Situation, in dem es auch die aufenthaltsrechtliche Nachreise des nichtdeutschen Ehegatten von einem Sprachnachweis abhängig machte. Sprachkenntnisse werden allerdings nicht von nichtdeutschen Elternteilen verlangt, die zur Ausübung der Personensorge für einbezogene Kinder einreisen wollen. Diesem Personenkreis wurde dann, ebenso wie den minderjährigen Kindern, – und das war eine Verbesserung – gestattet, gemeinsam mit dem Spätaussiedler auszureisen.

Schlussbetrachtung

Seit 1950 hat die Bundesrepublik Deutschland 4,5 Millionen Menschen, Aussiedler, Spätaussiedler und Familienangehörige, aufgenommen. Das entspricht zahlenmäßig der Bevölkerung eines kleineren Bundeslandes.

Das Aufnahmeverfahren verlief trotz seiner Komplexität ohne Friktionen. Das verdanken wir dem kooperativen Verhalten der Aussiedler. Es war aber auch eine große Verwaltungsleistung.

Das Aufnahmeverfahren läuft aus. Das zeigt die zahlenmäßige Entwicklung: Im ersten Halbjahr 2008 haben wir nur noch 1.500 Personen registriert, und die Antragszahlen befinden sich ebenso auf einem sehr niedrigen Niveau. Aber auch der Gesetzgeber hat deutliche Zeichen gesetzt. Dazu gehört der Statusausschluss durch das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz und der Paradigmenwechsel beim Kriegsfolgenschicksal ebenso wie die im Rahmen des Siebten Gesetzes zur Änderung des BVFG vom 16. Mai 2007 normierte Unwirksamkeit von Übernahmegenehmigungen und Aufnahmebescheiden für Angehörige von EU-Staaten ab dem 1. Januar 2010. Das Beteiligungsverfahren der Bundesländer wurde durch die Konzentration des Verfahrens beim Bundesverwaltungsamt aufgehoben, das nunmehr auch den Spätaussiedlern die Bescheinigung zum Nachweis ihrer Spätaussiedlereigenschaft ausstellt.

Sind wir im Bundesverwaltungsamt, so haben wir heute zu fragen, der besonderen Situation der Aussiedler und Spätaussiedler immer gerecht geworden? Diese Frage mit einem einfachen Ja zu beantworten, wäre vermessen. Von Menschen gesetzte Regeln sind ebenso unvollkommen wie menschliches Handeln, das auf die Umsetzung dieser Regeln gerichtet ist. Aber dass wir das Schicksal der Aussiedler immer im Blick gehabt haben, das möchten wir gerne festhalten.

Aussiedler sind, so hat es der erste Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, Dr. Horst Waffenschmidt, leidenschaftlich vertreten, ein Gewinn für unser Land. Dem schließt sich der Verfasser aus Überzeugung an.

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